Aus der EINSVIER: Zurück im Herzen der Stadt

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Zurück im Herzen der Stadt

Mehr als 200 Jahre lang gehörte jüdisches Leben zum Alltag der Stadt Potsdam. Bis die Nazis am 16. Januar 1943 die letzten 63 Juden in einem Lastkraftwagen zur Deportation in die Vernichtungslager überstellten. Es vergingen fast fünf Jahrzehnte, ehe das jüdische Leben wiedererwachte. EINSVIER-Redakteur Torsten Bless hat Facetten und Stimmen gesammelt.

Dr. Olaf Glöckner, der mich am Neuen Markt empfängt, forscht am Moses Mendelssohn Zentrum. Das Institut befasst sich mit der Geschichte, Religion und Kultur des Judentums in Europa von der Frühen Neuzeit bis heute. Zwar gründeten sich nach 1945 auf dem Gebiet der späteren DDR wieder acht jüdische Gemeinden, erklärt mir Glöckner. „Doch führten sie ein Schattendasein. Es fehlten Rabbiner, Religionslehrer und Bildungseinrichtungen. Ende der 1980er Jahre zählten sie noch 500 registrierte Mitglieder. Dann setzte nach der Wende eine wundersame Entwicklung ein.“

Unerwarteter Zustrom

Mit dem Zerfall der Sowjetunion wollten die meisten der dort lebenden Jüdinnen und Juden ihre Heimat verlassen. „Da wirkte die Erfahrung aus 70 Jahren religionsfeindlicher Diktatur nach“, so Glöckner. „Im Frühjahr 1990 kam eine größere Zahl nach Ost-Berlin und beantragte politisches Asyl.“ Nach der Vereinigung verabschiedeten Bund und Länder eine Flüchtlingsregelung. „Wer seine jüdische Abstammung nachweisen konnte, dem wurde im Allgemeinen die Aufnahme gewährt.“ Bis heute übersiedelten mehr als 230.000 Menschen nach Deutschland.

„Nach der Shoah gab es in unserer Stadt keine jüdischen Gemeinden mehr“, sagt Manja Schüle, Brandenburgs Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur. „Dass zahlreiche Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion zu uns kamen, um sich hier eine Heimat aufzubauen, ist ein großer Vertrauensbeweis.“

Dr. Olaf Glöckner steht in der Potsdamer Mitte.
Dr. Olaf Glöckner erforscht Geschichte, Religion und Kultur des Judentums.

Im März 1991 erblickte die Jüdische Gemeinde Land Brandenburg das Licht der Welt, 1996 folgt die Jüdische Gemeinde Stadt Potsdam. Im Laufe der Jahre bildeten sich die Gesetzestreue Jüdische Landesgemeinde Brandenburg, die Synagogen-Gemeinde und zuletzt Kehilat Israel. „Inzwischen gibt es fünf Gemeinden mit einem reichen Angebot an religiösen, kulturellen und sozialen Aktivitäten“, so Manja Schüle.

Parallel dazu entwickelte sich Potsdam zu einem herausragenden Ort für jüdische Forschung und Lehre. Neben dem Moses Mendelssohn Zentrum gehören die Institute für Jüdische Studien und Religionswissenschaft und für Jüdische Theologie dazu, beide an der Universität Potsdam. „Zwei der drei Ausbildungsstätten für Rabbiner in ganz Deutschland sind in der Stadt angesiedelt, das Abraham Geiger Kolleg und das Zacharias Frankel College“, sagt Olaf Glöckner.

Rabbi Ariel Kirzon steht vor dem Gebäude der neuen Synagoge.
Rabbi Ariel Kirzon hat viel vor mit seiner Jüdischen Gemeinde Potsdam.

Lebendiges Gemeindeleben

Der Potsdamer Rabbiner holt mich an einer mit Gittern und Kameras gesicherten Eingangstür ab. Auf dem Gelände der alten Feuerwache in der Werner-Seelenbinder-Straße residiert die Jüdische Gemeinde Stadt Potsdam. Das Gebäude ist Teil des Treuhandvermögens des zum Unternehmensverbund ProPotsdam gehörenden Sanierungsträgers Potsdam. Seit zwölf Jahren lebt Ariel Kirzon in Deutschland, seit fast vier Jahren ist er hier tätig.

Der gebürtige Ukrainer passt mit seiner freundlich-gelassenen Souveränität perfekt zu seinen Gläubigen, deren Familien fast ausschließlich aus Ländern der einstigen Sowjetunion stammen. „Sie kommen aus Russland, der Ukraine, Kasachstan oder Usbekistan“, schildert er. „Hier passiert immer etwas, jederzeit. Heute haben wir mehr als 550 Mitglieder.“ Gerne möchte er mehr Geflüchtete aus der Ukraine aufnehmen. Auch eine Kita steht auf seiner To-do-Liste.

Der Überfall der Hamas auf Israel hatte bislang kaum Auswirkungen auf die Gemeinde, so der Rabbi. „Ich glaube, unsere Lage ist sogar ein bisschen besser geworden. Weil wir jetzt Polizeischutz haben. Endlich.“

Mit der Tora in die Schulen

Der Geistliche bringt auch Schulklassen den jüdischen Glauben näher. Die Kinder dürfen eine Tora-Rolle betrachten, die einen Teil der hebräischen Bibel enthält. Ab und an stimmt Kirzon die Schofar, eine Hallposaune, an. Vor Kurzem hat der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime Interesse an einer Zusammenarbeit bekundet. „Vielleicht geht der Rabbiner mal zusammen mit dem Iman in die Schule“, meint Ariel Kirzon.

Gerne möchte er in seiner Wahlheimat bleiben. „Potsdam ist entspannt und sehr schön. An jedem Schabbat gehe ich hier mit meinen drei Söhnen spazieren und entdecke immer etwas Neues.“

Identität neu entdeckt

Sharon Kotkovsky treffe ich in einem Café. Beim Master-Studium lernte die gebürtig aus Jerusalem stammende Theaterwissenschaftlerin einen Studenten aus Potsdam kennen und lieben. Im Winter 2016 zog sie ins Bornstedter Feld. „Ich war mutig und abenteuerlustig.“

Vor größere Herausforderungen stellte sie, nicht mehr wie in der Heimat von lauter Jüdinnen und Juden umgeben zu sein. „Hier sind mir unsere Traditionen wichtiger als in Israel“, bekundet sie. „Mein Sohn kennt die jüdischen Feiertage. Zu Hause hat meine Mutter zum Schabbat die Kerzen entzündet und den Segen gesprochen, heute mache ich das.“

Ein größeres Publikum nahm Sharon Kotkovsky bereits mit in das jüdische Universum. „Im letzten Jahr gab ich eine Performance unter dem Titel ‚Seder-Mahl‘. Damit lud ich das Publikum ein, mit mir den Beginn von Pessach, eines unserer wichtigsten Feste, zu zelebrieren“, erzählt die Künstlerin. „Das war sehr feierlich und sehr schön.“

Sie musste auch Erfahrungen mit Antisemitismus machen. „Einmal schrie mich eine ältere Frau in der Straßenbahn an: ‚Geh wieder zurück, wo du hergekommen bist, du gehörst nicht hierher!‘ Ich wollte mich nicht kleinmachen, schon gar nicht vor meinem Kind, und schrie zurück.“ Seit dem 7. Oktober spricht sie in bestimmten Situationen kein Hebräisch mehr.

Als Künstlerin denkt die Israelin nicht daran, sich zu verleugnen. So gehört sie zu den Gründerinnen von Escala e. V. – Kunst und Kultur im interkulturellen Kontext. „Im Verein sind Frauen aus der ganzen Welt, muslimische, christliche, jüdische Frauen. Wir setzen uns für eine bunte und friedliche Gesellschaft ein.“

Sharon Kotkovsky zeigt einem Publikum die Traditionen des jüdischen Sedermahls.
Beim „Seder-Mahl" feierte Sharon Kotkovsky mit ihrem Publikum das Pessach-Fest.

Sharon Kotkovsky hat ihr neues Stück auf die Bühne gebracht. In „Re (DE) constructing Me“ verarbeitet sie ihre Erfahrungen als Immigrantin. „Ich musste meine jüdische Identität in Deutschland erst auseinandernehmen und dann wieder neu zusammensetzen.“ Der Abend verbindet Tanztheater mit Musik und Texten und hat am 18. Oktober seine Premiere im Kunsthaus „sans titre“ seine Premiere gefeiert.

Ein neues Gotteshaus

Nach jahrelangen innerjüdischen, aber auch politischen Konflikten um ihre Ausgestaltung öffnete am 4. Juli die Neue Synagoge ihre Tore. „Das ist auch ein großes Verdienst von Manja Schüle“, findet Olaf Glöckner. „Sie hat mit allen Beteiligten gesprochen und einen Mittelweg gefunden.“

„Die jüdische Gemeinschaft ist heute glücklicherweise wieder integraler Bestandteil unseres weltoffenen, vielfältigen, friedlichen und lebendigen Potsdams“, sagt dazu die Ministerin selbst. „Umso mehr freue ich mich, dass wir im Sommer das Synagogenzentrum dort eröffnen können, wo es hingehört: im Herzen der Stadt. Damit bekommen jüdische Religion, Kunst und Kultur, jüdisches Leben endlich wieder ein Zuhause. Die Einweihung war ein Freudentag – für Jüdinnen und Juden und auch für mich.“

Am 4. Juli hat die Neue Synagoge erstmals ihre Tore geöffnet.

Kabinettskollege Rainer Genilke pflichtet bei. Sein Ministerium für Infrastruktur und Landesplanung hat die gesamten Sanierungsmaßnahmen in der Potsdamer Mitte finanziell unterstützt. „Der städtebauliche Denkmalschutz schafft den passenden Rahmen für ein im wahrsten Sinne des Wortes zentrales Zeichen jüdischen Lebens in unserer Landeshauptstadt. Und er zeigt, dass jüdisches Leben ganz selbstverständlich in unsere Mitte gehört.“

Rabbi Ariel Kirzon ist gespannt auf die neuen Möglichkeiten. „Wir wollen die Synagoge mit Gebeten und vielen Veranstaltungen füllen.“ Sharon Kotkovsky würdigt, dass es nach so vielen Jahren wieder ein Gotteshaus gibt. „Aber es kommt darauf an, was die Menschen dort einbringen. Ich wünsche mir, dass die Synagoge zu einem Ort der Hoffnung wird, für die jüdische Gemeinde und für alle anderen Menschen.“

TEXT TORSTEN BLESS

Unter Nachbarn – Theatertour von Escala entlang der Potsdamer Stolpersteine