„Der Alltag bleibt draußen“
Nach einer Bergtour in Kirgisien beschloss Matthias Michel, den Stress im Job und damit sein altes Leben hinter sich zu lassen. Er importierte ein Stück zentralasiatische Entschleunigung nach Potsdam. Seit mehr als zehn Jahren residiert das von ihm geschaffene Nomadenland im Volkspark. EINSVIER-Redakteur Torsten Bless hat ihm einen Besuch abgestattet.
An einem Frühlingsmorgen im Volkspark: Der Nebel zu dieser frühen Stunde hüllt den Park ein und lässt die urbane Kulisse am Rand fast vollkommen verschwinden. Fern vom alltäglichen Trubel stehe ich mitten in der Natur. Der Grund für meinen morgendlichen Ausflug liegt direkt vor mir: das Nomadenland Potsdam. Die zeltartigen Behausungen inmitten hoher Bäume gleichen einer märchenhaften Filmkulisse. Hier bin ich mit Gründer und Inhaber Matthias Michel verabredet.
Alles ist still.
Das Nomadenland wirkt wie im Dornröschenschlaf. Ich bin anscheinend vor meinem Gesprächspartner angekommen, wende mich noch einmal von den Jurten ab und blicke über die weite Wiese vor mir, genieße die Ruhe. Die Vögel begrüßen den neuen Tag, es riecht nach Frühling. „Guten Morgen!“, erklingt es auf einmal hinter mir. Ich wirbele herum und vor mir steht Matthias Michel, noch etwas verschlafen, aber sichtlich gut gelaunt. Man sieht mir meine Verwunderung über sein plötzliches Auftauchen wohl an, da er erklärt: „Ich übernachte selbst ab und zu in meinem Jurtendorf. So habe ich alles im Blick und in klaren Nächten ist der Sternenhimmel über dem Bornstedter Feld fast magisch.“
Sein „Dorf“ im Remisenpark, dem nördlichen Teil des Volksparks, besteht aus drei Jurten, die eine Kombination aus Zelt und Haus sind, nach Machart der kirgisischen Nomaden, erklärt Michel mir. Er bittet mich, ihm in die Größte zu folgen, eine Premiere für mich. Da es draußen noch etwas kühl ist, habe ich mich vorsorglich etwas dicker angezogen. Völlig unnötig, wie sich herausstellt. Im Innern der Jurte ist es warm, eine behagliche Stille umschließt mich. Überall liegen Felle, die sehr einladend wirken. „Ganz gleich, ob private Feier oder Teamevent, Kinder oder Erwachsene, meine Gäste genießen die entspannte Atmosphäre im Nomadenland. Der Alltag bleibt draußen, man hat die Möglichkeit, sich zu fokussieren“, bemerkt mein Gastgeber. So manch einer, verrät er mir, ist bei so viel Besinnlichkeit schon weggedöst.
„Sein Land der Nomaden“
Eine Auszeit nahm sich Matthias Michel selbst vor 13 Jahren, als er den stressigen Alltag hinter sich ließ und nach Kirgistan reiste. „Ich wollte ein Abenteuer erleben, den höchsten Berg des Landes besteigen und fand dabei ein ganz neues Leben“, erinnert sich der gebürtige Spremberger. Besonders die Nomadenfamilien vor Ort, ihre Gastfreundschaft und ihr Dasein im Einklang mit der Natur faszinierten ihn. „Die Menschen besitzen nicht viel und doch sind sie sehr großzügig.“
Zurück in Deutschland realisierte Michel bald, dass er den alten Trott als Systemelektriker nicht mehr wollte. „Die Sehnsucht einfach zur Ruhe zu kommen, wurde immer größer.“ So erschuf er sich sein eigenes „Land der Nomaden“. Den passenden Kooperationspartner fand er bei den Mitarbeitern des Volksparks. Das Team war begeistert von Michels Konzept und steht ihm seit dem Aufbau der ersten Jurten 2010 unterstützend zur Seite.
Im Rausch der Zeit wird es immer wichtiger, sich den Augenblicken zu widmen.
Das Draußen-sein feiern
„Ich wollte eine archaische Atmosphäre wie vor 200 Jahren, einen Raum zum Genießen und tief Durchatmen. Im Rausch der Zeit wird es immer wichtiger, sich den Augenblicken zu widmen.“ Für Michel, das merke ich schnell, ist das Konzept der Stille keine hippe Marketingstrategie, sondern seine eigene Lebensphilosophie. Und diese überzeugt auch Besucherinnen und Besucher aus nah und fern.
An den Wochenenden entführen Erzähler die Gäste in die Welt der Märchen. Klangreisen helfen bei der bewussten Entspannung. In den warmen Monaten wird das „Draußen-sein“ gefeiert. Wer noch bleiben will, kann die Nacht im Nomadenland verbringen. „Meine ersten Übernachtungsgäste kamen aus Tasmanien und im letzten Jahr haben Briten hier geschlafen. Die wollten sicherlich ihre Chance vor dem Brexit nochmal nutzen,“ scherzt Michel. Für seine Gäste schwingt er selbst den Kochlöffel und serviert dazu Kumys. „Das ist vergorene Stutenmilch, die gern in Kirgistan getrunken wird, der Champagner der Steppe.“
TEXT TORSTEN BLESS